A.K.G.: Du zeigst im KOP.12 in Essen in der Ausstellung SEEING THINGS FROM BOTH SIDES die Arbeit SEEING CLOUDS FROM BOTH SIDES, eine Videoinstallation, welche die Ansicht einer Wolkenformation mit Hilfe einer Satellitenkamera gleichzeitig aus zwei entgegengesetzten Perspektiven aufgenommen hat. Kannst Du kurz erläutern, wie genau du das technisch gemacht hast?
L.M.: Es gibt inzwischen Apps, mit deren Hilfe man als Privatperson eine Satellitenaufnahme von einem beliebigen Ort bestellen kann, und zwar in Echtzeit, also zu einem selbst bestimmten Zeitpunkt. Ich habe die Hersteller einer diesen Apps kontaktiert und zunächst überreden müssen, meine künstlerische Arbeit zu sponsern, denn es ist immer noch sehr kostspielig solch eine Aufnahme in Auftrag zu geben.
Technisch hat es dann so funktioniert, dass ich dem Satellitenbetreiber meine eigenen Koordinaten übermittelt habe und er ab dem Zeitpunkt geschaut hat, wann sich welche Satellitenkamera im geradesten Winkel (am besten 90°) zu meiner Position befindet. Sobald es eine Übereinstimmung gab, bekam ich eine Benachrichtigung, an welchem Tag und um wieviel Uhr welcher Satellit über meiner Position fliegen und auslösen würde. So stand ich dann mit meiner Kamera um diese Uhrzeit an dem verabredeten Ort und konnte auf der App in Echtzeit die Bahn des Satelliten verfolgen, ähnlich wie bei Uber : ), wo man das Taxi kommen sieht. Es gab dann einen Countdown bis zu dem Auslösen der Satellitenkamera, so dass ich sekundengenau mit dieser synchronisiert von unten auslösen konnte. Es war schon ziemlich aufregend. Die ersten Male hatte ich einen rasenden Herzschlag, wenn ich den Satelliten kommen sah, da es sich verrückt angefühlt hat, dass ich mit diesem Gerät da oben zu einer gleichzeitigen Handlung “verabredet” war.
Dazu kam, dass ich in diesem einen Augenblick eine Wolke über meinem Kopf brauchte und keinen klaren oder ganz bewölkten Himmel. Es war eine der Herausforderungen, dass der fotografierte Himmelsausschnitt in dieser einen Sekunde passte. Satelliten lösen normalerweise auch nur bei klarem Himmel aus, weil sie so programmiert sind. Ich wollte aber etwas anderes, also musste der Satellit umprogrammiert werden. Das ist alles ein langer Weg der Kommunikation gewesen : )
A.-K.G.: Ein Date mit einem Weltraumpartner … ;)  Damit sprichst Du direkt zwei Aspekte an, die ich sehr interessant finde, 1. die Simultaneität und 2. die technische Abbildung oder Abbildbarkeit von Natur. Vielleicht sprechen wir zunächst kurz über die Simultaneität? Die Dinge von zwei Seiten zu sehen, heißt ja im Grunde, auch „die andere Seite“ zu sehen, die normalerweise – die Wolken betreffend auf jeden Fall – unserem Blickfeld entrückt ist. Als die Kubisten und auch die ital. Futuristen Anfang des 20. Jhds. die Dinge und Ereignisse „zersplittert“ und aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig gezeigt haben, wollten sie damit ein Gesamtbild herstellen bzw. die Schnelllebigkeit des modernen Lebens aufnehmen und einen Ausdruck des dynamischen Weltbildes finden. Was hat Dich an dieser Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit interessiert?
L.M.: Genau, bei den Kubisten ging es mehr um Darstellung von Bewegung. Mein Interesse an der Simultaneität bezog sich mehr auf die Gleichzeitigkeit von Ansichten auf Natur und dadurch auf die Erfassbarkeit von Natur… Zum einen hat mich der Kontrast zwischen Unmöglichem und Möglichem fasziniert, zwischen dem fast kindlichen Wunsch: “Ich will jetzt diese eine Wolke auch von der anderen Seite sehen können” und dann dessen Umsetzung mithilfe einer hochkomplexen technischen Apparatur. Zum anderen wollte ich die scheinbare Überlegenheit und Kontrolle thematisieren, die beim Erfassen von Natur durch das Nutzen technischer Tools immer mitschweben.
A.-K.G.: Die Dinge von zwei Seiten zu betrachten impliziert ja – im Gespräch oder Diskussionen z.B. – auch die Gegenseite zu erfassen, sich auf etwas einzulassen, was auch da und durchaus begreifbar ist. Auch wenn wir es vielleicht nicht direkt in Erwägung gezogen haben. In Deiner Arbeit verstehe ich Deinen Ansatz eher so, dass Du das ganze bewusst steigerst, indem Du etwas raussuchst, was zumindest mit unseren menschlichen Sinnen gar nicht erfasst werden kann, weil es außerhalb unserer Reichweite liegt… 
Ich erinnere mich daran, die Arbeit erstmals auf den Litfaßsäulen (2019) gesehen zu haben, da hast Du die Wolken heruntergeholt, sie wirkten im Stadtbild von Köln fast wie „vom Himmel gefallen“. Du machst also mit der Technik das Unmögliche möglich?
L.M.: Die Behauptung klingt gewagt, aber ja, es passiert genau das. Die Technik scheint in diesem Fall unsere physischen Unzulänglichkeiten zu überbrücken.
A.-K.G.: Anknüpfend an Deine Aussage, dass Dich die Überlegenheit technischer Tools beim Erfassen von Natur interessiert, ist ja auch die Naturerfahrung dementsprechend eine ganz andere, oder? Man kann sich vielleicht nicht so sicher sein, ob es eine Erweiterung oder letztendlich (durch das „Ausschalten“ der Phantasie) eine Einschränkung darstellt… was würdest Du, auch bezogen auf Deine Arbeitsweise, sagen?
L.M.: Die technisch vermittelte Naturerfahrung ist mit Sicherheit weniger sinnlich oder ich habe es bis jetzt in meiner Arbeit zumindest so empfunden. Aber das Emotionale der Natur durch das Rationale der Technik zu kontern oder die Balance zwischen der Sachlichkeit der Technik und der Sinnlichkeit der Natur zu finden – das ist für mich der spannende Punkt beim Kunstmachen. Ich empfinde es dann nicht als Einschränkung, sondern als Gewinn einer neuen Betrachtungsweise.
Und weil ich von Balance gesprochen habe, muss ich an ein Paradox denken, das sich durch meine künstlerische Arbeit zieht: Oft endet die Umsetzung einer Idee, eines Konzepts in einer extremen Asymmetrie zwischen Technikaufwand und visuellem Ergebnis. Zum Beispiel wollte ich für meine Diplomarbeit an der KHM das direkte Sonnenlicht, das in einen Innenraum hineinstrahlt, “einfrieren”. Der Lichtfleck an der Wand sollte also im Laufe des Tages nicht weiterziehen, sondern immer an der gleichen Stelle bleiben. Für diesen Eingriff in einen natürlichen Prozess musste ich fast ein Jahr lang an einem Heliostat bauen – einem beweglichen Spiegel, der der Sonne nachgeht. Es war für mich eine Mammutaufgabe, dieses Stück Technik zu bauen, da ich wenig bis keine Ahnung von Elektromechanik oder Programmieren hatte. Am Ende hat es zwar funktioniert, aber man sah im Raum lediglich einen Lichtfleck an der Wand.
Ähnlich bei einer aktuellen Arbeit von mir: Eine Art Pfütze soll im Innenraum unabhängig von der Raumtemperatur einfrieren und wieder auftauen können. Wieder ein enormer technischer Aufwand, damit am Ende ein bisschen Wasser am Boden zu Eis wird. Diesmal habe ich mir aber technische Hilfe geholt.
A.-K.G.: Diese unterschiedlichen Naturzustände, die Veränderungsprozessen unterworfen sind, in welche Du technisch eingreifst, in dem das Schmelzen und Gefrieren von Wasser „in die Hand nimmst“, einen Lichtfleck verwahrst oder das Zusammenballen der Tröpfchen zu Wolken von verschiedenen Seiten untersuchst, ist das eher eine spielerische Neugier am Gestalten von Material oder geht es auch mit einem Verweis auf unser permanentes Eingreifen in die Prozesse der Natur im Anthropozän einher?
L.M.: Eher das erste. Es hat mich schon immer der Gegensatz künstlich vs. natürlich interessiert, aber auch die kinetische Energie in verschiedenen Materien.
A.-K.G.: Du hältst damit ja auch etwas Ephemeres fest, hinderst es, am Verschwinden. Auch Deine zweite Arbeit, die Du in Essen zeigst, die beiden Luftballons, die sich aufeinander zubewegen, verändern ihre Gestalt, Luft entweicht und doch bleiben sie irgendwie immer gleich, oder? Oder fangen sie während der Ausstellungsdauer an zu schrumpeln?
L.M.: Es sind zwei Ballons aus verschiedenen Materialien: der “echte” ist mit Helium gefüllt und schwebt, während seine Kopie aus Gips, 23kg wiegt und spiegelverkehrt zu dem ersten, am Boden verankert ist. Beide Ballons sind miteinander verbunden und ziehen in gegensätzliche Richtungen. Mit der Zeit gibt der Heliumballon nach und sinkt immer weiter Richtung Boden, bis er ganz auf dem Boden liegt. Das passiert innerhalb von 2 Tagen. Diese Arbeit entstand zwar aus einem anderen Kontext, nämlich der Kopie und Imitation, verhandelt aber ein wenig das Thema der multiplen Ansichten auf einen Gegenstand durch das Variieren von Materialität.
A.-K.G.: Impliziert die Arbeit also auch eine Art „Balance“ – zwischen Schwere und Leichtigkeit, oben und unten, Luft und Gips…?
L.M.: Die Arbeit heißt “affinité” – Anziehung auf Französisch – und spielt wieder mit Gegensätzlichkeiten (leicht-schwer, oben-unten), die sich aber irgendwo auch “anziehen” im Sinne von ergänzen, weil sie sich gegenseitig bedingen. Mich reizt es, neue Einheiten zu etablieren, die aus Gegensätzlichem bestehen. Wenn ich es schaffe, in einem Thema spannende Kontraste zu finden, dann springt meine Phantasie richtig an. Und dann habe ich lange Spaß mit der Arbeit.​​​​​​​
A.-K.G: Vielen Dank für das interessante Gespräch!

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April 2021





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